…oder auch: wenn der Ruf unserer wilden Seele uns in die Tiefe führt
Wenn ich Frauen nach ihren größten Ressourcen frage, kommt fast immer in irgendeiner Weise Wasser vor. Meer, Strand, See, Badewanne, Fluss, Duschen, Pool…
Wenn ich Frauen nach ihren größten Ängsten frage, kommt fast immer Wasser vor. Dunkles, unbekanntes Wasser, Träume von Schlangen und großen Fischen oder Walen, die nach unten in die Tiefe ziehen, Angst vor den tiefen, nicht einsehbaren Zonen eines Gewässers.
Wasser. Frauen.
Wassergeburt wird immer normaler, Badewanne und Duschen der Klassiker der Entspannung und das Meer symbolisiert für unzählige Frauen die Freiheit – ich weiß um so viele Herzen, die sehnsuchtsvoll nach dem Wasser rufen, nach dem Ozean, nach der Weite und dem Rauschen von Flüssen, nach dem Gefühl, in Wasser zu schwimmen.
Und ich weiß um so viele Alpträume und wirklich tiefe Ängste rund um das Wasser.
Ich selbst habe seit ich denken kann Träume vom Meer, vom Wasser und VON ORCAS.
Sie kamen permanent, in den variationsreichsten Formen. Als Kind schon war mir klar, dass ich diesem Ruf eines Tages folgen werde. Mir war felsenfest klar, dass ich mit Walen schwimmen werde.
Und dann gebar ich mein erstes Kind. Und erlebte eine traumatische Geburt. Und es folgten Jahre von schrecklichen Alpträumen. Ich träumte beinahe jede Nacht davon, dass ein Orca, eingesperrt in einem viel zu engen Pool, ausbrach und mich fraß. Ich wusste schon, er lauert da irgendwo. Ich wusste schon im Traum, wenn ich um diese Ecke gehe ist da der Pool. Also lief ich in die andere Richtung. Dann sprang der Orca riesengroß aus der Wand in einem Kaufhaus.
Immer wieder. Fast jede Nacht.
Und so sehr ich Wasser liebte – und schon seit Kindheit an fast jeden Tag in einen See oder Fluss oder Meer ging – ich konnte nicht mehr ins tiefe Wasser schwimmen. Schwamm im flachen Wasser hin und her. Voller Sehnsucht nach dem Wasser, voller Panik vor den Tiefen.
Da meine Mama auch diese Angst hatte (ihre Angst war seit ich mich erinnere, dass eine Seeschlange kommt und sie herunterzerrt) – war ich daran gewöhnt, dass Frauen Angst haben vor tiefen Wasser.
Und gleichzeitig war da dieser Ruf. Dieser unbequeme, in mir zappelnde RUF: RAUS HIER! Raus aus der Enge dieser Stadt, dieser Wohnung, dieser Welt, dieses Baukastensystem – in das du nicht passt wie ein Orca in einen Pool.
Ich habe wirklich versucht, normal zu sein und in einem Pool glücklich zu werden.
Aber meine wilde Seele rebellierte jede Nacht. Und meine kleine, schreiende Tochter auch.
Und dann zogen wir los.
Raus aus der Stadt, rein in den Wald, dahin, wo Wölfe heulen und du in der Neumondnacht nicht weißt, wo oben und unten ist vor Schwärze.
Und auch dort: So sehr ich den Wald und unseren Waldsee liebte: Ich hatte Angst vor den heulenden Tiefen des Waldes.
Ich gebar mein drittes Kind im Vollmond im Pool unserer kleinen Lehmbude in eben diesem Wald.
Und danach wurde aus dem Orca im Pool plötzlich etwas ganz anderes. Die Träume änderten sich.
Ich änderte mich. Traumatherapie und Frauenkreise und jahrelanges Leben im Wald, weit ab von Straßen und Kaufhäusern, hatte mich zu mir selbst gebracht.Und dann schwamm ich 2022 im Nordpolarmeer mit Orcas. 30. Und 51 oder 52 Buckelwale (da zählte ein Drohne die Tiere, in dieser Masse an riesigen, gigantischen Wesen kommt es dann irgedwann nicht mehr auf die 51 oder 52 an – nur noch auf: OH MEIN GOTT)
Ich erzähle das, weil ich weiß, dass du, wenn du eine Frau bist und wenn du diesen Ruf des Wassers in dir spürst, weißt, was das bedeutet. Du fühlst es in deinen Knochen. Und eben dieses Gefühl in den Knochen, wenn unsere wilde Seele aufheult und die Wölfin losjagd – dieses Gefühl ist es, was verhungert in einem Leben aus Steuererklärung und Wochenendspaßbad. Diese wilde Seele, je lauter sie ruft, desto unbequemer wird es. Wir können sie wegdrücken, wir können sie betäuben, wegshoppen, wegessen, rausrennen, wegscrollen…wir können sie manchmal eine Zeitlang so gekonnt überhören, dass wir glauben, sie sei ausgewandert.
Und dann kommt sie plötzlich wieder.
Wenn wir am Meer stehen und uns die Erinnerung kommt. Die Erinnerung an den Ruf unserer wilden Seele, die als Kind vielleicht noch etwas freier rief.
Warum macht es uns Angst, ins Wasser zu gehen?
Warum macht es uns Angst, unserem Ruf zu folgen?
Natürlich könnte man argumentieren, dass die Angst vor dem tiefen Wald und seinen Wölfen ebenso berechtigt ist wie die Befürchtung, dass ein Tier in den Untiefen des Meeres uns frisst. Diese Argumente setzen ab einer gewissen Stelle aus, dann nämlich, wenn Frauen nicht mal in einem kleinen, feinen Waldsee auch nur einen Schritt ins Tiefe wagen aus Angst vor einem Orca oder Monster oder sonstwas. Ich war so eine Kandidatin. Ich hatte EXTREME Panikattacken mitten im See. Solche Angst, dass ein Orca kommt. Manchmal kommt die Angst noch immer als kleine Miniaturform der alten Angst.
Und was mache ich?
ICH BLICKE IN DIE TIEFE.
Dahin, wo ich früher nicht hinsehen wollte. Ich blicke mitten ins Wasser. Und atme. Und gebe mich hin.
Die Frage nach der Angst vor tiefem Wasser ist eine sehr wichtige Frage und sagt meiner Erfahrung nach sehr viel mehr über unser Gefühl von Sicherheit im Inneren aus als unser Kontostand. Die Angst vor tiefem Wasser ist mal mehr, mal weniger, mal weg, mal da, mal extrem, mal vergessen.
So, wie unsere wilde Seele sich gerade fühlt.
Wilde Wasser sind manchmal rau, wild, trüb, machmal klar, sanft und leuchtend, machmal grau und eintönig, manchmal wellig, rauschend, schnell, machmal so still wie eine Neumondnacht schwarz ist.
So, wie wir.
So, wie die weibliche wilde Natur in uns all das ist.Die Angst vor dem unbekannten tiefen Wasser führt uns zur Angst vor unserer eigenen inneren Stimme. Einer Stimme, die uns mit großer Wahrscheinlichkeit immer und immer wieder abbringen wird von dem vorgegebenen Weg der konventionellen Autobahn. Einer Stimme, die unbarmherzig und klar und deutlich unsere Wahrheit ruft – und uns in Tiefen führt, die ein Leben im flachen, seichten Leben manchmal unmöglich macht.
Bitte versteh mich richtig: türkisblaue, seichte Gewässer sind wunderschön! Und es ist ein Traum, im flachen Wasser und Sonnenschein wohlig zu treiben. Doch jede noch so paradiesische Traumküste hat einen tiefen Grund, jeder Sandstrand ist verbunden mit rauhen, felsigen Ufern und das Türkis der seichten Bucht wäre nicht so türkis, wenn es nicht auch die großen Meeresströmungen mit ihrem abgrundtiefen Schwarz gäbe. Das Helle und das Dunkle. Der Tag und die Nacht. Gebären und Sterben. Da sind wir bei den Naturgesetzen angelangt.
Geburt ist roh und nicht kontrollierbar, genauso wenig wie wir wissen,wann und wo und wie wir sterben.
Diese Ungewissheit auszuhalten kostet Kapazität und ein Urvertrauen, welches den meisten von uns schon in frühester Kindheit genommen wird.
Das Bedürfnis nach Sicherheit kann manchmal zu Strukturen führen, die uns alles verbieten, was sich nicht mehr kontrollieren lässt. Wenn Babys möglichst geplant und überwacht auf diese Erde kommen und Kinder die meiste Zeit des Tages in quadratischen Räumen und Strukturen verbringen, wenn wir vom Wetter und der Jahreszeit nur noch einen Hauch aus dem Fenster erhaschen und die Heizungsluft uns den Atem prägt – dann kommen die Orcas am besten klar, die den Kampf aufgegeben haben, aus dem Pool zu heraus zu kommen. Hast du mal eine Rückenflosse eines eingesperrten Orcas gesehen? Sie wird krumm.
Hast du mal die Augen einer innerlich gebrochenen Frau gesehen? Er wird trüb.
Ich möchte uns nicht einladen, unser Leben allzeit im rauhen Sturm stehend zu verbringen und auf einen warmen Ofen zu verzichten. Wir sind zivilisiert und keine von uns kann allein im Wald überleben.
UND: Unsere wilde Seele weiß das nicht. Unsere wilde Seele hat die Melodie aus 10000 Jahren in ihren Knochen und singt noch immer am Feuer, während unsere zivilisierten Körper die Tagesschau gucken. Oder Instagram. Oder Auto fahren. Such dir was raus. Der Moment, wenn es in uns zieht und zerrt und wenn das Wasser nach uns ruft ist ein wichtiger. Er bedeutet viel und ist kein Kinkerlitzchen. Auf diesen Ruf zu hören, über ihn mit den richtigen Menschen zu sprechen, ihm zu folgen – das kann unbequem werden, ja, weil wir ahnen, dass unser Leben sich ändern wird. So wie vor der Geburt nicht nach der Geburt ist. So, wie das Leben in seiner Absolutheit auch den Tod beinhaltet.
Diese Urgefühle müssen nicht unseren gesamten Alltag bestimmen. Es ist völlig ok, sich zu fragen, ob es Nudeln oder Kartoffeln gibt und ob rosa besser aussieht oder grün. Und: Unsere Wilde Seele kommt nicht ohne Grund. Der Alptraum und die Angst vor dem Wasser sagt mit großer Deutlichkeit etwas zu uns. Zeit, zu lauschen.Zeit, uns auszutauschen.
Zeit, uns wieder und wieder ums Feuer zu setzen und den Ruf unserer Seele sprechen zu lassen.
So, wie er sich gerade zeigt.
Rau, weise, frech, wild, sanft, zart, leise, laut oder still.
Frausein.
Weib.
Wenn das Wasser nach dir ruft.
Text: Marietta Ullmann
Foto: Jenni Federwisch