Grundlagenwissen Nervensystem

Diesen Text schrieb ich für den Podcast "be ready" von Lisa Marie Wydra

von Marietta Ullmann

Das 1×1 unseres autonomen Nervensystems – für ein Leben in unserer Mitte

In dieser Folge möchte ich dir ein paar grundlegende Dinge über unser autonomes Nervensystem nahe bringen. Das klingt vielleicht ziemlich trocken: Autonomes Nervensystem. Und vielleicht klingt es im ersten Moment eher nach Biologieunterricht und nicht nach etwas Relevantem für unser psychisches und emotionales Wohlergehen.

Doch ich verspreche dir: Es ist unglaublich erleichternd, spannend und meistens sogar elementar für ein Verständnis unseres Wohlergehens, wenn wir wissen, wie unser Nervensystem tickt und was es braucht, um reguliert zu sein.

Fast alle gesundheitlichen Symptome, körperlich, geistig und emotional – lassen sich viel besser verstehen und transformieren mit dem Wissen darum, was uns aus unserer Mitte gebracht hat und warum.

Denn viele (wenn nicht gar fast alle) Herausforderungen mit uns selbst und anderen sowie gesundheitliche Probleme haben ihren Ursprung in einem nicht balancierten Nervensystem.

Das heißt ganz allgemein: Ein gesundes Leben im Flow und in Balance ist nur möglich, wenn wir ein ausbalanciertes und gut reguliertes Nervensystem haben. Was bedeutet: Wenn unser autonomes Nervensystem unser Leben als sicher einstuft, sich grundsätzlich im entspannten Modus befindet und sich nach Stresssituationen schnell erholen kann – dann fühlen wir uns sehr wahrscheinlich wohl mit uns und anderen.

Dabei ist ganz wichtig zu betonen: Unser Nervensystem hat ganz natürlich verschiedene Erregungszustände über den Tag verteilt. Reguliert zu sein bedeutet also nicht pauschal, zu meditieren oder entspannt zu liegen. Auch im Sport oder anderen aktiven Tätigkeiten sind wir zwar in einem aktivierten Modus – solange wir uns dabei aber sicher fühlen, liegen wir völlig im gesunden und grünen Bereich.

Das ganze lässt sich sehr gut vereinfacht darstellen mit dem von Daniel Siegel geprägten Bild des Stresstoleranzfensters. Der Begriff Stresstoleranzfenster (window of tolerance) ist entstanden, um die verschiedenen Erregungszustände unseres Nervensystems vereinfacht darzustellen.

Es zeigt natürlich, wie bei allen vereinfachten Darstellungen, nicht die ganze Komplexität der Vorgänge in unserem Nervensystem, aber es ist völlig ausreichend und sehr hilfreich, wenn wir uns ein Bild darüber machen wollen, was in uns vorgeht und was uns helfen kann, ein ausgeglichenes Leben zu führen.

Stell dir das Stresstoleranzfenster vor als einen Bereich, in dem unser Nervensystem reguliert ist. Du kannst dir ein Blatt Papier vorstellen. Alles, was innerhalb dieses Rahmens liegt, umschreibt den Bereich, in dem wir uns sicher fühlen.

Das heißt, wenn wir uns innerhalb des Stresstoleranzfensters befinden, sind wir in der Lage zu Verbundenheit, Präsenz im Hier und Jetzt, Neugier und Kreativität. Unser Nervensystem ist in Balance, also einem optimalen Grad der Erregung.

Die Erregungszustände können natürlich variieren. Mal sind wir eher im unteren Bereich des Fensters, mal im oberen Teil.

Der untere Bereich des Rahmens (also alles an der unteren Papierkante) ist dabei der Bereich des Parasympatikus. Du hast sicher von ihm gehört. Der Parasympatikus ist der älteste Teil unseres Nervensystems. Er ist im sicheren Zustand verantwortlich für Regeneration und Entspannung, Verdauung und alle Zustände, die im eher ruhigen Modus liegen. Wenn wir also zum Beispiel nach dem Sport in die Entspannung kommen, uns ausruhen und etwas essen – dann befinden wir uns eher im unteren Bereich des Stresstoleranzfensters.

Ganz anders während des Sports. Dann befinden wir uns eher im oberen Bereich des Stresstoleranzfensters. Hier ist der Bereich des Sympatikus. Er ist der zweitälteste Teil des Nervensystems und verantwortlich für die Steigerung unserer Aktionsfähigkeit. Wenn wir rennen, viel zu tun haben, vielleicht einige Termine auf einmal abarbeiten – dann liegen wir im Bereich der sympatikotonen Erregung in Sicherheit.

Und hier kommt dann schon der springende Punkt: Liegen wir INNERHALB des Stresstoleranzfensters, dann ist dieser Grad der Erregung und die Aktiviertheit in uns völlig gesund und in Balance. Es liegt im Bereich des Sicheren für unser Nervensystem.

Wenn sich unser Nervensystem jedoch bedroht fühlt – dann setzen unsere Überlebensreaktionen ein. Auch das ist völlig gesund. Wenn wir plötzlich einem Raubtier im Wald begegnen, dann ist es wunderbar und völlig gesund, dass unser Nervensystem sofort alle Energie bereit stellt um zu kämpfen, zu fliehen oder zu erstarren. Unser Sympatikus zeigt dann seine ganze Kraft unter Hochstress und Bedrohung. Dann liegt der Grad unserer Erregung über dem Rahmen des Stresstoleranzfensters, also in einem Bereich der Unsicherheit und Bedrohung.

Erst, wenn Kämpfen, Fliehen und Erstarren nicht helfen, dann kippen wir in den Bereich nach unten im Stresstoleranzfenster. Wir kippen raus aus dem Rahmen der Sicherheit in den Bereich des Parasympatikus unter Lebensbedrohung. Das ist die letzte Stufe an Überlebensreaktion, die wir haben: Shut down, völliges Erschlaffen. Wie eine Maus, die noch nicht tot ist, aber komplett dissoziiert und leblos erschlafft, um möglichst wenig Schmerz zu empfinden und das bedrohliche Ereignis möglichst nicht voll bewusst erlebt.

Du kannst dir also vorstellen, dass wir innerhalb des window of tolerance immer wieder unser Erregungsniveau ganz natürlich ändern und dennoch immer im Zustand der Balance sind.

Erst unter empfundener Bedrohung oder Lebensbedrohung kippen wir automatisch raus aus diesem gründen Bereich.

Die Betonung liegt nun, im Verständnis um Trauma und Traumafolgen, auf dem Wort: EMPFUNDENE Sicherheit. Denn: Natürlich ist uns allen klar, dass ein Tiger, ein Löwe, ein heranrasender LKW oder ein heftiger Sturm eine Bedrohung für uns darstellt. Es ist völlig logisch, dass wir dann in Überlebensmuster fallen.

Doch: Sehr sehr viele Menschen verbringen den Großteil ihres Alltages in einem latenten Gefühl der Unsicherheit und befinden sich in ihrem Grad der Erregung überwiegend oder viel zu häufig außerhalb des Stresstoleranzfensters.

Das hat viele Ursachen. Und ist natürlich individuell und Komplex. Um es vereinfacht auszudrücken: Zum einen sind wir in der westlichen Welt zunehmend mit unglaublich vielen Reizen auf einmal konfrontiert und befinden uns latent viel zu viel im oberen Bereich des Toleranzfensters, was zu latentem Dauerstress im Nervensystem führt. Es ist quasie ohne bewusste Entspannung und Pausen im Alltag kaum noch möglich, das Pensum an Aufgaben in unserer aktuellen Gesellschaftskultur gesund zu bewältigen.

Zum anderen – und das ist der wesentliche Teil für sehr viele von uns: Alle Arten von Trauma und Traumafolgestörungen beeinflussen unser Nervensystem nachhaltig in Bezug auf die Empfindung von Sicherheit.

Traumafolgen lassen sich immer an unserem Nervensystem erkennen. Je nach Intensität und Art des Traumas hat es zur Folge, dass unser Nervensystem viel schneller in den Alarmmodus fällt und somit das Stresstoleranzfenster immer schmaler und enger wird. Unser Nervensystem empfindet dann keine Sicherheit, auch wenn rein rational keine Bedrohung vorliegt.

Menschen mit Traumafolgen kippen also viel schneller und alltäglicher raus aus dem grünen Bereich des Nervensystems oder verbringen gar fast die ganze Zeit oberhalb oder unterhalb des window of tolerance.

Oftmals ist es den Betroffenen nicht mal bewusst, dass sie im Alarmmodus sind, weil es sich schon so normal anfühlt. Dann fühlt sich das autonome Nervensystem permanent bedroht oder ist sehr wachsam. Ein gesundes Leben ist so nicht möglich – es hat auf Dauer Folgen für unsere Organe und unser körperliches und emotionales Wohlbefinden, wenn wir zu viel im Ausnahmemodus sind.

Es kann auch sein, dass ein von Traumafolgen betroffenes Nervensystem auf eine tatsächliche Bedrohung (zum Beispiel ein wildes Tier) angemessen reagiert, sich aber danach noch lange im Aktivierten Modus befindet, ohne zurück zu kehren. Das heißt, auch wenn wir mal Stress erleben ist es für Menschen mit Traumafolgen manchmal fast unmöglich, sich nach Phasen der Aktivierung wieder zu entspannen und sicher zu fühlen und kippen irgendwann völlig in die Untererregung. Dann schaltet sich der Parasympatikus sozusagen im Notfallprogramm ein. Die Betroffenen erleben das aber nicht als Entspannung in Sicherheit sondern eher als Lähmung, Depression und völlige Ausgelaugtheit.

Vielleicht magst du kurz einmal durchatmen. Vielleicht geht es dir ja auch so, dass du viel zu oft in einem Gefühl der latenten Unsicherheit und dich damit in Stress befindest. Vielleicht kennst du auch Betroffene von Trauma, bei denen das Stresstoleranzfenster ganz eindeutig nur noch ein ganz schmaler Bereich ist. Vielleicht kennst du auch das Gefühl, dass jede Kleinigkeit dich selbst oder dir nahestehende Personen aus dem grünen und sicheren Bereich deines Nervensystems katapultiert. Überall sind dann in den Alltag kleine und große Trigger. Je nach Intensität und Dauer dieser Zustände sind Betroffene und Angehörige oft sehr verzweifelt. Denn eine Weile können wir unser Leben vielleicht so gestalten, dass wir auch mit einem sehr engen Stresstoleranzfenster einigermaßen zurecht kommen – doch dauerhaft ist ein Leben in Freude, Gesundheit und Wohlgefühl so nicht möglich.

Was können wir also tun, wenn wir bemerken, dass wir viel zu viel außerhalb unseres Stresstoleranzfensters leben?

Zunächst ist es der wichtigste Schritt überhaupt, dies zu ERKENNEN. Wenn wir erkennen, dass wir uns in Dauerstress, Unsicherheit, Angst oder depressiven Zuständen befinden, dass wir permanent kämpfen oder Fluchtimpulse haben, innerlich starr sind oder gar in einem teilnahmslosen Zustand sind – dann ist dieses Gewahrsein das Tor in die Regulation.

Denn nur, wenn ich mir bewusst bin, dass mein Nervensystem sich in einem disregulierten Zustand befindet, kann ich mich wieder bewusst darum kümmern, ein Gefühl der Sicherheit zu kreieren.

Ich kann Schritt für Schritt lernen, nach Stressphasen wieder bewusst in den grünen Bereich zu gelangen.

Manchmal ist unser Nervensystem schon so geprägt, dass ein angemessenes Gefühl der Sicherheit einfacher mit Hilfe von Therapie oder traumasensibler Begleitung wieder entstehen kann.

Doch für uns alle gilt: Das, was dir ein Wohlgefühl vermittelt, was dir wirklich nachhaltig gut tut, dich im Inneren leuchten lässt – das gilt es herauszufinden. Solche Tätigkeiten, Orte, Dinge, Menschen oder inneren Zustände, die uns regulieren, uns gut tun – das sind Ressourcen.

Ressourcen sind sehr individuell und es kann ein Weg der Neugier und spielerischen Achtsamkeit bedeutet, sich der eigenen Ressourcen bewusst zu werden. Ressourcen können der Weg hinaus aus dem Stress und hinein in die Balance sein.

Es ist wirklich wichtig, genau zu beobachten. Denn wo für den einen Meditation eine absolute Ressource ist, kann es für einen anderen Menschen eher ein Trigger sein. Für einen Menschen, der eher in latenter Übererregung lebt, ist es zwar wichtig, wieder eher in die Ruhe zu finden und den Parasympatikus zu aktivieren, eine plötzliche Ruhe und Stille kann jedoch auch wieder triggern. Genau so, wenn wir aus Zuständen der Untererregung wieder herausfinden wollen – eine plötzliche Aktivierung kann wiederum zu erneut empfundener Unsicherheit führen und damit kontraproduktiv sein.

Was auch immer dir hilft, dich in deiner Mitte zu fühlen – es ist das allerbeste, was du dir und deinem Nervensystem schenken kannst.

Sicherlich können wir durch Ressourcen nicht vermeiden, dass wir wieder in Über- oder Untererregung kippen. Ein ressourcenreiches Leben hat jedoch zur Folge, dass sich unser Stresstoleranzfenster weitet, ausdehnt, und der Bereich der empfundenen Sicherheit damit nachhaltig wächst.

Dieses Ausdehnung des sicheren Bereiches durch die bewusste Einbindung von Ressourcen im Alltag ist so viel nachhaltiger, als Trigger zu vermeiden.

Wenn du magst, nimm dir in den nächsten Tagen Zeit, um genau zu betrachten: Was tut dir nachhaltig gut? Wann fühlst du dich sicher? Ist es ein Spaziergang im Wald? Natur im allgemeinen? Bewegung? Gutes Essen? Kunst, Musik, Liebevolle Menschen?

Was auch immer dir an äußeren und inneren Ressourcen einfällt – beobachte einmal, wie sich dein grundlegendes Lebensgefühl verändert, wenn du Ressourcen bewusst in deinen Alltag einbaust.

Ich wünsche dir viel Freude beim Herausfinden und ausprobieren

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