Die heilige verfressene Baba Yaga in mir

Diesen Text schrieb ich für die Zeitschrift "Motherhood"

von Marietta Ullmann

Baba Yaga.
Ein Text über Baba Yaga. Ja, sage ich, schreib ich total gern! Diese alte slawische Göttin.
Meine liebste Braut. Meine freche Freundin. Meine weise Ratgeberin.
Und dann sitze ich unter riesigen Buchen, lausche dem Wind in den Blättern und frage mich:
Was von all dem, von dieser urgewaltigen, riesigen Kraft, von diesem Urweib – was soll ich da
in einen Text packen?
Vielleicht in etwa so: ICH LIEBE BABA YAGA.
Und gleich dazu: weil sie so wundervoll unlogisch, verfressen, weise und absolut ohne einen
passenden Rahmen voller Inbrunst lebt.
Sagen wir mal so, es ist nicht unbedingt Baba Yaga. Das ist ein Name, der ihr gegeben wurde,
eine Form.
Es geht hier um den Teil in uns, der da wach wird, wenn es um Baba Yaga geht. Der Teil,
vielleicht auch die Teile, die plötzlich in uns rütteln und schütteln oder auch ganz leise, gleich
einer Ahnung, an die Tore unseres Unterbewusstseins pochen.
Jedesmal, wenn ich in Frauenkreisen diese uralte weise Weiblichkeit in den Raum hole,
Märchen lese oder von ihr erzähle – dann beginnt plötzlich etwas zu brodeln zwischen uns
Frauen. Dann passiert da viel – es ist nicht mal in Worte zu fassen.
Vielleicht weil Baba Yaga keine Figur ist, die man klar verstehen kann.
Ursprünglich ist Baba Yaga eine wilde slawische Göttin der Geburt und des Todes Tief im Wald
lebt sie in einem Haus auf Hühnerbeinen. Meist fliegt sie in ihrem Mörser durch die Lande.
In den meisten russischen Märchen wurde sie mehr und mehr zu einer menschenfressenden
alten Hexe, einer zwiespältigen Person, der man lieber aus dem Weg gehen sollte, wenn man
bei Verstand ist. Nur wenige, die sich zu ihr tief in den Wald trauen, nur wenige, die eine
Begegnung mit ihr überleben.
Wer zu ihr kommt, erhält Weisheit, denn sie ist urweise und kennt die Antwort auf fast alle
Fragen. Eine alte weise Frau, eine Hexe, eine tief im Wald lebende Weiblichkeit.
Eine Figur, die weder gut noch böse zu sein scheint, die absurde, unvorhersehbare Dinge tut,
Spreu von Weizen trennt, ständig etwas kocht oder frisst und einen Zaun aus Knochen um ihr
tanzendes Haus hat. Eine Weiblichkeit die uralt ist und doch lebendig wie ein Feuersturm, die
furchteinflößend und hilfsbereit gleichzeitig ist und von der man wirklich sagen kann, dass sie im
gesellschaftlichen Kontext als eine irre Alte gelten könnte und definitiv in der Psychiatrie landen
würde. Eine Frau mit riesiger Fresslust, mit Wutkraft und Feinsinn. Eine Urgewalt.

Hast du ein Gefühl für sie? Spürst du etwas in dir in Resonanz gehen? Merkst du da was
zappeln in dir? Das Bild einer alten, weisen, verrückten Urweiblichkeit im Wald – was löst es in
dir aus?
Clarissa Pinkola Estés schreibt in ihrem Buch „Die Wolfsfrau“ dazu (solltest du die Wolfsfrau
noch nicht gelesen haben, bitte tu es): „…dass ein Baba-Yaga-Selbst in jeder Frau steckt, eine
elementare, rätselhafte Kraft, die der universellen Mutter des Werdens, Vergehens und
Neuwerdens entspringt, von der die individuelle Frau nur eine vorrübergehende Verkörperung
ist.“
Eine Urnatur, eine Kraft, die das Gebären und Sterben, das Werden und Vergehen, das
Wachsen und Vergehen ausdrückt – eine zutiefst weibliche Gabe. Ein Wesenszug, den
unzählige, wenn nicht gar die meisten Frauen überhaupt nicht mehr spüren.
Wenn ich mit Frauen arbeite – einzeln oder im Kreis – dann kommt früher oder später im
Kontakt mit dem eigenen Schoßraum diese mir mittlerweile schon vertraut gewordene Urwut
hervor.
Als würde ein Deckel aus Scham und Schuld und Angst und was noch alles langsam sich
heben und darunter eine Kraft emporsteigen, die im ersten Moment so gewaltig scheint, dass
viele Frauen lieber mit diesem Deckel leben, als die Kraft darunter in ihr Leben zu lassen. Oder
nur mal so ganz kurz. Zack. Und wieder Deckel drauf. Denn etwas in uns ahnt ja bereits – wenn
wir diese Kraft unter dem Deckel emporsteigen lassen – dann bleibt hier vielleicht nix wie es
war. Dann werden wir vielleicht alles möglich verändern wollen und dann werden wir unser
Meinung sagen und dann….werden wir vielleicht nicht mehr so nett wahrgenommen? Diese
Kraft ist ja unheimlich machtvoll.
Sie kann dann im ersten Moment als WUT rüberkommen und Wut ist ja nicht so der beliebte
Gast bei uns Menschen.
Dafür habe ich tiefes Mitgefühl! Sich der eigenen Urgewalt zu stellen – erst recht verwickelt und
verdreht mit Traumaspuren und gesellschaftlichen Prägungen – ist nicht gerade ein
Spaziergang.
Doch manchmal zwingt uns das Leben förmlich, dieser Kraft in uns ins Auge zu blicken.
Spätestens beim Gebären begegnen wir ihr – und haben manchmal auch den Mut, uns ihr zu
stellen.
Ich habe drei Geburten gebraucht, um diese unendliche Urgewalt in mir endlich aus ihrem
Gefängnis zu lassen.
Ich hatte jahrelang Träume von Orcas (meinem Krafttier) in einem viel zu engen
Schwimmbecken.
Und dann gebar ich, im sternklaren Nachtfrost, in unserer kleinen Lehmbude im Wald in
Alleinlage, bei Vollmond und Feuer im Ofen mein drittes Kind.

Ich gebar nur in Anwesenheit meiner Katze, meiner Kinder und meines Mannes. Und meiner
Urkraft.
Ich war nicht sanft und lieblich wie ich es mir erhofft hatte. Auch nicht schmerzlos war es und
auch nicht schön und hell. Ich war aggressiv, ich war wütend, ich war WÜÜÜÜTEND und
irgendwann nicht mehr nur wütend – ich war animalisch. Ich habe ein Kraft aus mir in die Welt
gebrüllt, die mich groß werden ließ, wie ich es nie vorher geahnt habe. Anfangs zeterte ich rum,
dass ich jetzt endlich eine schöne Geburt will – ich schrie laut: Wenn mir jetzt jemand mit
Räucherstäbchen kommt, schmeiß ich ihn raus!
Ich gestattete mir eine Resolutheit, eine Unfreundlichkeit, eine Rohheit, die ich mir nie zuvor
gestattete.
Und gebar mein Kind im Vollmondschein in meinem Geburtspool. Zum ersten Mal ohne Angst.
OHNE ANGST.
Ich hatte bis dahin bei jeder Geburt Angst gehabt, gejammert, gezetert. Angst.
Und nun, in Anwesenheit dieser GEBURTSWUT, wie ich sie damals nannte, eine Stärke in mir
erlebt, die mein Leben bis heute verändert hat.
Ich bin in dieser Geburt der Baba Yaga in mir begegnet. Ich ließ sie machen. Ich gab mich ihr
hin.
Nach dieser ekstatischen Geburt begann ich eine Traumatherapie und eine
Traumatherapieausbildung, begann mich an allen Ecken und Enden zu entfalten und lebte mich
vollkommen aus – und träume seit dem nur noch von freien Orcas, denen ich in den nächsten
Wochen zum ersten Mal in meinem Leben begegnen werde. Ein Lebenstraum, den ich mir
jahrelang nicht erfüllte – ich begreife jetzt erst, dass es ANGST war, die mich davon abhielt.
Angst, meiner Kraft zu begegnen.
Und diese Angst lässt uns lieber ein gedeckeltes Leben leben, als uns der darunterliegenden
Urgewalt zu stellen.
Zugegeben, würde die Baba Yaga in mir die komplette Führung in meinem Leben übernehmen
ich vermute, ich würde ziemlich schnell für verrückt erklärt. Ich würde wahrscheinlich keinen
Supermarkt betreten können ohne Polizeieinsatz.
Darum geht es auch nicht.
Worum es geht, das spüren wir in unseren Knochen, dass ahnen wir mit unserem ganzen
Wesen.
Hier geht es um eine Kraft die mehr ist als ein nice-to-have.

Hier geht es um uns alle.
Als ich damals meinen Sohn in dieser Wut gebar, hatte ich das Bild und den Wunsch, mit
Frauen eine Schlammschlacht zu machen.
Damals dachte ich noch: Das will ich unbedingt machen – aber wie? Wer macht denn das mit?
Mittlerweile mache ich es.
Und ich liebe es.
Denn wir Frauen sind schön und sanft und weich und mütterlich.
Und das ist wundervoll.
Wir sind gleichzeitig jedoch wild, animalisch, unlogisch und kraftvoll wie eine Sturmflut.
Und dieser Teil in uns, der da stürmt und braust, den brauchen wir, wenn wir nicht in einem
endlosen braven Mädchen-Albtraum versinken wollen.
Das Mädchen in uns, das liebende, weiche, zarte, das reine und weiche,
das braucht manchmal auch diese knallharte, rigerose Urgewalt hinter sich, die genau weiß,
wann sie gefragt ist.
Um es mit Clarissa Pinkola Estés Worten zu sagen: „Wir können uns aus verschiedenen
Gründen dumm stellen, aber wir wissen es. Die Wolfsfrau in uns weiß es.
Beim Licht des feurigen Schädels, wir wissen solche Dinge.“
Aloha.

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