Der Vagusnerv – Grundlagenwissen Nervensystem Teil 2

Diesen Text schrieb ich für den Podcast "be ready" von Lisa Marie Wydra

von Marietta Ullmann

In der letzten Folge habe ich über die grundlegende Funktionsweise unseres autonomen Nervensystems gesprochen. Mithilfe des Stresstoleranzfensters (nach Daniel Siegel) haben wir uns angesehen, welche Zustände der Erregung es gibt und dass sowohl Übererregung als auch Untererregung nur dann auftreten, wenn unser Nervensystem für uns Bedrohung oder sogar Lebensbedrohung wahrgenommen hat.

Und um es an dieser Stelle vorab noch einmal zu betonen: Wann unser Nervensystem unsere Umgebung als sicher oder unsicher empfindet – das hat nicht nur etwas mit der rational gesehenen Sicherheit zu tun. Es hat vor allem etwas damit zu tun, wie unser Nervensystem geprägt ist, welche Erfahrungen wir gemacht haben und vor allem: ob wir Traumafolgen im Nervensystem tragen.

Aufbauend auf die letzte Folge, möchte ich heute etwas tiefer blicken in unser Nervensystem. Denn natürlich bietet das Stresstoleranzfenster eine wunderbar vereinfachte Darstellung für uns, um zu verstehen, wie wir in die verschiedenen Erregungszustände geraten. Gleichzeitig lässt sich in diese komplexen Vorgänge natürlich immer noch ein bisschen tiefer blicken.

Und der nächste Schritt in diese tiefere Betrachtung führt uns nun zu einer Besonderheit im Nervensystem, die nur Säugetiere und damit auch wir Menschen im Nervensystem tragen: zum ventralen Vagusnerv.

Der ventrale Vagusnerv ist der jüngste Teil des autonomen Nervensystems. Und auch in der Wissenschaft ist der ventrale Vagusnerv noch nicht sehr lang bekannt. Erst 1994 stellte Prof. Dr. Stephen Porges durch seine Polyvagaltheorie eine völlig neue Sichtweise auf das Nervensystem von Säugetieren dar.

Polyvagaltheorie. Ein Wort, was für den Laien erstmal völlig fremd klingt und doch taucht dieser Begriff immer häufiger auch in social Media oder populärwissenschaftlichen Betrachtungen über unser psychisches Wohlbefinden auf. Und das nicht ohne Grund: Die Polyvagaltheorie gibt uns viele neue Sichtweisen auf uns und unsere Gesundheit.

Im Grunde meint der Begriff „polyvagal“ folgendes: Der parasympatische Teil des Nervensystems, also der Teil in uns, der ganz allgemein für Regeneration und Entspannung verantwortlich ist, teilt sich bei Säugetieren in zwei Nervenstränge. Auf der einen Seite in den dorsalen Vagusnerv. Ihn kennen wir schon. Er ist der älteste Teil des Nervensystems. Ganz jung und eben nur bei Säugetieren vorkommend ist der ventrale Vagusnerv.

Er ist Teil unserer zutiefst sozialen Natur. Er ermöglicht uns feinfühlige Interaktionen mit anderen Wesen und ermöglicht uns das Empfinden von tiefer Verbundenheit.

Man könnte sagen: Er ist der Bindungsnerv schlechthin.

Er ist elementar wichtig für das Gefühl echter Verbundenheit. Im Zustand ventral – vagaler Erregung fühlen wir uns verbunden mit uns und unserer Umwelt. Wir können durch unsere Mimik und Gestik, Stimme und Ausstrahlung anderen Menschen Sicherheit und Verbundenheit vermitteln.

Wenn unser ventraler Vagus aktiv ist in Sicherheit, dann erleben wir Regulation durch Verbundenheit zu uns und anderen Menschen. Am anschaulichsten ist das, wenn wir uns die Interaktion zwischen Mutter und Baby ansehen. Eine Mutter, die ihr Kind stillt und dabei beruhigend spricht und ihr Baby anlächelt, reguliert sich und ihr Baby über den Ventralen Vagus.

Singen, gemeinsam Musizieren, ein verbundenes Gespräch, liebevolle Mimik und Gestik – all das sind Signale, die unseren ventralen Vagusnerv stimulieren und uns damit ein Gefühl der Sicherheit schenken.

Denn: Wir Menschen sind und bleiben unser Leben lang auf Bindung angewiesen. Als Baby natürlich existenziell. Aber auch im Erwachsenenalter ist ein Gefühl der Verbundenheit essentiell für ein gesundes, harmonisches Leben.

Blicken wir noch einmal zurück zum Stresstoleranzfenster. Dort haben wir ja gut dargestellt, dass unser Nervensystem im Zustand empfundener Sicherheit innerhalb des Toleranzfensters bleibt und Schwankungen ganz natürlich sind.

Erst, wenn unser autonomes Nervensystem eine Bedrohung empfindet, schalten wir um in den Überlebensmodus. Das bedeutet auf der Seite der Übererregung (Sympatikontone Erregung): die drei bekannten Strategien Kämpfen, Fliehen oder Starre.

Was bei dieser allgemein bekannten Sicht leider immer wieder außer acht gelassen wird: VOR all diesen Drei Überlebensstrategien auf Seiten des Sympatikus wählen wir Menschen (und Säugetiere) die Regulation über andere Menschen/ Lebewesen. Es ist ein Überlebensreflex, die co- Regulation über ein anderes autonomes Nervensystem zu suchen.

Ganz wunderbar sehen wir das wieder in der Interaktion zwischen Mutter und Kind: Stell dir vor, eine Mutter sitzt auf einer Bank und redet mit ihrer Freundin, während das Kind im Sandkasten spielt. Es kommt ein lautes Geräusch oder ein fremder Mann vorbei, ein Hund oder etwas anderes Unbekanntes – und das Kind unterbricht sein spiel, schaut die Mutter an (oder läuft zu ihr) und versucht über die Mimik und Verhaltensweisen seiner Mutter zu erfahren, ob diese Situation bedrohlich ist oder nicht.

Lächelt die Mutter und spricht beruhigend, wird das Kind sehr wahrscheinlich bald wieder weiter buddeln.

Blickt sie ängstlich oder angespannt, wird es hingegen wohl eher auf ihren Schoß klettern wollen und erst einmal bei ihr bleiben, bis die Spannung sich wieder legt.

Wir sehen an diesem Beispiel: Wir kommen mit einem unreifen Nervensystem zur Welt. Ausschließlich über unsere Bindungspersonen lernen wir in den ersten Jahren, uns zu regulieren. Wir KÖNNEN nach der Geburt weder kämpfen noch fliehen, noch durchschauen, ob eine Situation sicher ist oder nicht. Das lernen wir alles über die co – Regulation mit unseren Bindungspersonen.

Mehr und mehr reift unser Nervensystem heran und kann, wenn wir eine sichere Bindung erfahren haben, unterscheiden, wann eine Situation sicher oder bedrohlich ist. Bei Bindungstrauma ist das Nervensystem dazu auch im Erwachsenenalter nicht angemessen in der Lage – dazu werde ich im nächsten Podcast genauer eingehen.

An dieser Stelle ist es mir wichtig zu betonen, dass co – Regulation eine säugetierspezifische Form der Regulation unseres Nervensystems ist und dass diese Erkenntnis eine ganze Palette von Möglichkeiten aufzeigt, wie wir unser Wohlbefinden stärken und nach stressigen oder traumatischen Erlebnissen wieder herstellen können.

Denn ein Hauptmerkmal von Trauma ist es, dass das Ereignis, dass zu Traumafolgen führte, isolativ empfunden wurde. Ganz einfach ausgedrückt: Wenn wir etwas Schreckliches allein erleben und auch im Nachhinein uns allein gelassen fühlen mit der Situation, dann entstehen ganz andere und schwerwiegendere Folgen im Nervensystem, als wenn wir das Gefühl haben oder hatten, in dieser Situation gehalten, unterstützt und eben nicht allein gewesen zu sein.

Durch die Polyvagaltheorie haben wir also einen wissenschaftliches Beleg dafür, dass Bindung und Verbundenheit nicht nur gut tut, sondern essentiell ist für uns Säugetiere.

Und ein Gespräch mit der besten Freundin nach einem stressigen Ereignis kann daher oft das Regulierendste sein, was es für uns gibt, noch vor Yoga, Meditation, Spazieren und all den anderen wunderbaren Tools, die häufig empfohlen werden.

Wir sind in gewisser Hinsicht voneinander abhängig und es ist nicht nur ratsam, sondern auch notwendig, dass wir uns nicht ausschließlich allein zu regulieren versuchen, sondern über die Verbundenheit zu anderen Menschen oder auch Tieren.

Bindung ist eine echte Ressource für Nervensystemregulation.

Und das ist auch mein Hauptanliegen in dieser Folge: Es ist wissenschaftlich erklärbar, dass alle angenehmen Tätigkeiten der Verbundenheit mit uns und anderen Lebewesen unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden steigern.

Wir können unser Nervensystem bewusst regulieren lernen im Kontakt mit anderen wohlwollenden Menschen. Ganz wichtig ist es natürlich, dass wir uns mit diesen Menschen und den Tätigkeiten wohlfühlen. Unser Wohlgefühl ist ein wunderbarer Gradmesser der Verbundenheit, die wir empfinden und damit auch der Heilsamkeit.

Wenn du also üben möchtest, dein Nervensystem in Balance zu halten, dein Stresstoleranzfenster zu erweitern und dich eben auch nach Möglichkeiten umsiehst, wie du dich aus Über – oder Untererregung regulieren kannst in einen Zustand der Sicherheit – dann lade ich dich ein, einmal in dir die Frage zu bewegen:

Welche Art der Verbundenheit erlebe ich als wohltuend?

Gibt es bestimmte Menschen oder Tiere, denen du vertraust und bei denen du dieses Gefühl der Verbundenheit fühlst?

Gibt es Tätigkeiten, die dir dieses Gefühl vermitteln und deinen ventralen Vagus stimmulieren? Singen, Musizieren, Tanzen, kreativ sein oder schöne Gespräche?

Und wie kannst du diese Ressourcen so in dein Leben integrieren, dass sie dir verlässliche Sicherheit im Alltag ermöglichen können?

Solltest du bei diesen Fragen ins Grübeln kommen und bemerken, dass dich soziale Interaktionen eher auslaugen oder gar stressen – dann möchte ich dich einladen, auch der nächsten Folge zu lauschen, in der ich explizit darauf eingehen werde, was wir tun können, wenn uns Verbundenheit schwer fällt oder gar stresst.

Hier und Jetzt ist es vielleicht wohltuend, wenn du deinen Fokus dennoch einmal auf die Bereiche in deinem Leben wendest, in denen du vermutest, dass sie deinen ventralen Vagus positiv aktivieren. Mitunter sind das scheinbar sehr kleine Dinge – wie der treue Blick der Hündin vom Nachbarn zum Beispiel – doch genau diese kleinen Dinge sind manchmal sehr große Schätze, wenn es darum geht, herauszufinden, was uns gut tut und uns unterstützt, in ein gesundes und ausbalanciertes Leben hinein zu wachsen.

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